jueves, 18 de diciembre de 2008

Diktaturen und Widerstand in Lateinamerika-Vortrag in Köln im Oktober 2008

Allerweltshaus Köln – Diktaturen und Widerstand in Lateinamerika
„Heute verhältnismäßig friedlich“
Von Elke Kochann

In der Reihe „Geschichte und Geschichten“ des Projektes „Erinnern für die Menschenrechte“ im Allerweltshaus Köln richtete sich der Blick diesmal auf „Militärdiktaturen und Widerstand in Lateinamerika“. Referenten waren Rainer Huhle und Roberto Frankenthal. Dazu passend wurde wieder ein Buch aus der Raphel-Lemkin-Bibliothek vorgestellt – diesmal „Chile - Ein Schwarzbuch“.
Das ausgewählte Chile-Schwarzbuch wurde 1974 von Hans-Werner Bartsch,Martha Buschmann, Gerhard Stuby und Erich Wulff herausgegeben und erschien somit kurz nach dem Putsch vom 11. September 1973. Sophie Hennis berichtete, wie stark sie das Buch geprägt habe - vor allem die Informationen über Folter und das „Verschwindenlassen“ als Technik der Repression. Die beiden Referenten und die zahlreichen Teilnehmer begrüßte sie nach der Lesung mit den Worten, es sei schön, dass sich heute „drei Generationen von getätigter Lateinamerika-Arbeit im Allerweltshaus einfinden“. Rainer Huhle arbeitet im Nürnberger Menschenrechtszentrum und ist Kuratoriumsmitglied des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Von 1997 bis 1999 arbeitete er im Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Kolumbien. Roberto Frankenthal lebt seit 1986 in Deutschland und wurde als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten 1963 in Buenos Aires geboren. Von 1989 bis 2006 war er Herausgeber der Zeitschrift „Argentinien Nachrichten“ Heute ist er freier Journalist und schreibt unter anderem für die Zeitschriften „ila“ und „Tangodanza“.Die Rolle der Kirche

Huhle begann seinen Vortrag mit einer Bemerkung, durch die Einladung habe er sich „um 20 Jahre zurückversetzt“ gefühlt, und verwies auf die Tatsache, dass das Verständnis von Lateinamerika in den 1960er Jahren durch Militärdiktaturen geprägt war. Heute gehe es dort im Vergleich zu den letzten 200 Jahren verhältnismäßig friedlich zu, aber es gebe dort auch schon frühere Zeugnisse von Verfassungen, Menschenrechtsbestrebungen sowie Gewaltenteilung.

In seinem Bericht konzentrierte sich Huhle auf Chile. Politische Opposition und Gewerkschaften wollten in den 1970er Jahren dort eher die soziale Revolution. Die Repression nach der Zerschlagung des politischen Widerstands zwang viele, nach neuen Formen einer (Schutz-)Organisation zu suchen. Dabei habe an vorderster Stelle die Kirche gestanden, vor allem Bischof Helmut Frenz, der von 1965 an als Propst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile tätig war, bis er 1975 des Landes verwiesen wurde und anschließend Generalsekretär von amnesty international in der Bundesrepublik Deutschland wurde. Wichtig sei, sich bewusst zu machen, so Huhle, dass die Widerstandsbewegung gegen die Diktatur zu diesem Zeitpunkt keine Mehrheitsbewegung gewesen sei, und dass Augusto Pinochet große Unterstützung fand. Die Stärke der Widerstandbewegung sei hingegen die gute internationale Vernetzung gewesen, wofür auch die Organisation Amerikanischer Staaten genutzt wurde.
Im Mittelpunkt des Vortrags von Roberto Frankenthal, der zur Zeit des letzten Militärputsches geboren wurde und seit seiner Jugend in der Menschenrechtsarbeit engagiert ist, stand Argentinien. Das Land sei ein „Sonderfall“ im Sinne des Staatsterrorismus. Es gab häufige Wechsel von Demokratie, Wahlen, Putsch, Militärdiktatur, Terrorismus, wieder Demokratiebestrebungen und dann die ersten Konzentrationslagern 1975 und die damit verbundene Folter. In diesem Punkt hätte Argentinien von anderen lateinamerikanischen Ländern, wie Chile, „gelernt“, was veröffentlichte Bilder von zusammengepferchten Gefangenen in Stadien anrichten können. Gegner sollten deshalb heimlich verschwinden - der so genannte „Argentinische Tod“.

Putsch von der Bevölkerung unterstützt

Angesichts der krisenhaften Situation hätten, so Frankenthal, ca. 80 Prozent der Bevölkerung den Putsch vom 24. März 1976 unterstützt. Dabei sei es in der Menschrechtsbewegung zu 30.000 Opfern gekommen, ebenso viele Menschen wurden inhaftiert. Im Unterschied zu Chile konnten sich die argentinischen Exilanten jedoch nicht auf ein genügend breites Netzwerk verlassen, sie waren eher auf sich allein gestellt. Frankenthal führte hierzu das Beispiel Michelle Bachelets an, der heute amtierenden Präsidentin Chiles, die nach dem Putsch in die DDR floh. Biografien dieser Art gab es im Fall Argentinien nicht.

Widerstand gegen die Militärdiktatur habe es kaum gegeben. Erst ab 1977 gründeten sich langsam die ersten Angehörigenorganisationen, und erst 1979 gab es Protestversuche der Gewerkschaftsbewegung, die jedoch durch Uneinheitlichkeit wenig Durchschlagskraft besaß. Ein Teil unterstützte weiter die Militärdiktatur und lieferte mitunter sogar Namenslisten. Wichtig sei der Besuch der UN-Menschrechtskommission 1979 gewesen, wodurch viele Untaten das erste Mal aktenkundig wurden. Die Militärdiktatur sei schließlich nicht wegen des Widerstands der Bevölkerung, sondern an den eigenen Fehlern gescheitert, zum Beispiel am Falklandkrieg 1982, vor allem an der wirtschaftlichen Situation. Die ersten demokratischen Wahlen gab es 1983, aus denen Raúl Alfonsín als Präsident siegreich hervorging.

Umgang mit der eigenen Vergangenheit

Den Umgang Argentiniens mit der eigenen Vergangenheit schätzt Frankenthal als äußerst bedenklich ein. Diese sei „weder diskutiert, erörtert oder bewältigt worden“. Im Jahr 2008 begannen die ersten Prozesse gegen Zivilisten, die bei der Politik des Verschwindenlassens von Menschen mitgewirkt haben.

Eine der ersten Fragen aus dem Publikum ging an Roberto Frankenthal und betraf den ehemaligen Junta-Chef beim Militärputsch, Jorge Rafael Videla. Im Oktober 2008 wurde der Hausarrest gegen ihn aufgehoben und Videla wurde in ein Militärgefängnis verlegt. Die Teilnahme der Bevölkerung, so Frankenthal, sei jedoch relativ gering und auf gar keinen Fall mit der im Fall Pinochets zu vergleichen, die eine viel größere Wirkung gehabt habe.

Beratung aus Frankreich

Thematisiert wurde auch die Rolle der französischen Geheindienste, bzw. des französischen Militärs. So spielten französische Militär- und Geheimdienstberater eine große Rolle bei der Ausbildung des argentinischen Heers. Dabei ging es vor allem um die „französische Doktrin“, die Frankreich selbst im Algerienkrieg entwickelt und angewandt hatte. Der große Unterschied war laut Frankenthal allerdings, dass in Argentinien diese Methoden gegen die eigene Bevölkerung und nicht gegen eine Kolonialbevölkerung angewandt wurden. Französische „Ausbilder“ seien ja auch in die USA gegangen, um dort die Leute auf den Vietnamkrieg vorzubereiten.

Auf die Frage, warum die Militärdiktaturen eine Erscheinungsform gerade der 1970er Jahre waren, erklärte Rainer Huhle, dass sie im Grunde ein Ergebnis des Kalten Krieges gewesen seien. Durch die jährlichen Interamerikanischen Konferenzen sei ein kontinentales, gemeinsam getragenes Projekt entstanden, das sich unter dem Stichwort „nationale Sicherheit“ zusammengefasst gegen den Kommunismus wandte. Sophie Hennis ergänzte, die „Doktrin der nationalen Sicherheit“ sei im Grunde die Legitimation von Herrschaftsformen. Diese Doktrin war, so Huhle, zunächst eine reine Militärdoktrin, habe so die politische Situation bestimmt und sei schließlich eine generelle Lebensphilosophie geworden. Heute gehe die Geschichte der Militärdiktaturen zu Ende; durch einen erweiterten Sicherheitsbegriff, der eher auf soziale Gerechtigkeit abziele. In diesem Punkt widersprach Roberto Frankenthal, der nach wie vor diese Doktrin lebendig erlebt. Sie würde heute nur anders betitelt.

Die deutsche Diplomatie

Eine Reihe von Fragen galt der Wirkung des Besuches der UN-Menschrechtskommission 1979 in Argentinien. Laut Frankenthal war die Anzahl von verschwundenen Personen vorher mit Sicherheit viel höher als nach diesem Besuch. Innerhalb der Militärdiktatur konnte man sich nun sicher sein, beobachtet zu werden. Einigkeit bestand bei den Referenten, dass „Sichtbarmachung den Betroffenen hilft“, wobei das Vorgehen der deutschen Diplomatie kritisiert wurde. Frankenthal mahnte, dass die von Deutschland vertretene „stille Diplomatie“ kein Leben retten würde.

Auch die Tatsache, dass viele der Prozesse erst gegenwärtig in Gang kommen, kam zur Sprache. Auf die Frage, warum dies so sei, erklärte Huhle, dass es einen Unterschied zwischen einem Prozess und der Tatsache des Sich-erinnerns gebe, und dass man dies im Grunde auch mit der Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg vergleichen könne. In Uruguay gab es nach der Zeit der Militärdiktatur sogar eine Volksabstimmung mit dem Ergebnis, dass keiner der Militärs vor Gericht kommen solle. In Chile wurde nach zwei Jahren eine Wahrheitskommission eingerichtet. Generell sei in Lateinamerika nicht zu unterschätzen, dass die Länder in gewissen Situationen voneinander lernen. Frankenthal fügte hinzu, dass es in Argentinien auf jeden Fall eine Frage der Generation sei. Das heutige Staatsoberhaupt, Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, war damals jung und hatte keine politische Verantwortung. Dementsprechend stelle sie sich heute der Sache anders entgegen.

Zu fortgeschrittener Stunde wurde die Veranstaltung beendet, allerdings war das Thema für die Anwesenden noch nicht beendet. In kleinen Gruppen wurde mit oder ohne die Referenten angeregt weiter diskutiert. (PK)
Aus Neue Rheinische Zeitung

„Nie wieder“ – Erinnerungskultur und Strafverfolgung in Argentinien

Zumindest in punkto Vergangenheitsbewältigung gilt Argentinien seit einigen Jahren als menschenrechtliches Vorzeigeprojekt. Der Traum der Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzern, anderswo allenfalls die Vision einer fernen Zukunft, ist dort Wirklichkeit geworden. Doch das Kapitel der Diktaturverbrechen ist nach dreißig Jahren noch längst nicht abgeschlossen: Das argentinische Beispiel zeigt vor allem, dass selbst explizit auf die politische Tagesordnung gesetzte Vergangenheitsbewältigung nicht automatisch von Erfolg gekrönt wird. Die Förderung einer Erinnerungskultur hat zwar wichtige Akzente gesetzt, aber in der Strafverfolgung gibt es noch zahlreiche Hindernisse zu überwinden.

Rückblick
Die Machtübernahme der Militärs in Argentinien am 24. März 1976 führte zu der brutalsten Repressionswelle in der Geschichte des Landes. Bis zum Ende der Diktatur 1983 wurden Zehntausende von Personen verhaftet und in geheimen Folterlagern ohne Prozess monate- oder sogar jahrelang misshandelt; viele von ihnen wurden außergerichtlich hingerichtet oder galten als „verschwunden“, da niemand ihren Aufenthaltsort zu wissen schien. Die einzige Gruppe, die es wagte, öffentlich gegen das Regime zu protestieren, waren die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, die ab 1977 jeden Donnerstag nachmittag vor dem Präsidentschaftspalast in Buenos Aires ihre Runden drehten und die Rückkehr ihrer „verschwundenen“ Kinder und Enkel forderten. Durch sie (und Angehörigenverbände in anderen lateinamerikanischen Ländern) wurde der Begriff des desaparecido zum Synonym für Opfer lateinamerikanischer Militärdiktaturen. Auch die Bezeichnung der grausamen Repressionmethoden als „schmutziger Krieg“ („guerra sucia“) ist zum feststehenden Begriff für Unrechtsregime geworden.
Das eine gravierende Schuldenkrise erzeugende neoliberale Wirtschaftsprogramm und nicht zuletzt die Niederlage im Falkland-Krieg gegen Großbritannien brachen der Militärjunta den Nacken. Die Übergabe der Regierung an zivile politische Parteien wurde ohne Pakt besiegelt, so dass die neugewählte Zivilregierung mit Präsident Raúl Alfonsín ihr Amt zunächst ohne Einmischung der Uniformierten ausüben konnte. Sehr konsequent verfolgte Alfonsín die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen.
CONADEP und der Prozess gegen die Juntageneräle
Alfonsín setzte die CONADEP (Comisión Nacional para la Desaparición de Personas) zur Untersuchung des Schicksals der Tausenden von “Verschwundenen” ein. Sie bestand aus zehn ausgewählten, für ihre persönliche Integrität und ihr Menschenrechtsengagement bekannte Personen (unter ihnen nur eine einzige Frau) sowie aus drei Mitgliedern der Abgeordnetenkammer; geleitet wurde sie von dem bekannten Schriftsteller Ernesto Sábato. Zwischen 1983 und 1984 wurden der Kommission 8.960 Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens gemeldet, wobei allerdings eine sehr hohe Dunkelziffer berücksichtigt wurde. Die Schätzungen der Madres und von Menschenrechtsorganisationen gehen noch heute von ca. 30.000 Opfern dieses Verbrechens aus, und auch die CONADEP erhob nie Anspruch auf Vollständigkeit ihrer Angaben. Ihr im September 1984 veröffentlichter Abschlussbericht „Nunca Más“ („Nie wieder“) legte über den Umfang und die Grausamkeit der Menschenrechtsverletzungen anhand 709 eindeutig bewiesener Einzelfälle Zeugnis ab. Die Existenz von etwa 340 Foltergefängnissen wurde belegt, eine Liste der der CONADEP bekannten Opfer sowie auch Täter dem Bericht beigelegt. Bemerkenswert im argentinischen Fall ist die vergleichsweise hohe Anzahl „verschwundener“ Frauen (ca. 28%) sowie die vielen Kinder, die in Folterhaft geboren und anschließend von Militärs, aber auch nichtsahnenden kinderlosen Familien adoptiert wurden.
Als einer der ersten seiner Art in Lateinamerika wurde „Nunca Más“ ein Bestseller in Argentinien und in zahlreiche Sprachen übersetzt (u.a. ins Deutsche). Entscheidend war nicht nur die minuziöse Darstellung der Geschehnisse, die die Wahrhaftigkeit des Berichts über alle Zweifel stellte, sondern die Schlussfolgerung der CONADEP, dass die begangenen Gräueltaten keine Exzesse gegen militante Subversive darstellten, sondern einem systematischen Plan zur Eliminierung einer bestimmten politischen Klasse Argentiniens Folge leisteten. Die begangenen Menschenrechtsverletzungen waren demnach eindeutig als Verbrechen gegen die Menschheit zu definieren. Dieser Rechtsbegriff sollte in späteren Jahren eine zentrale Rolle in der strafrechtlichen Verfolgung von Diktaturverbrechern spielen.
Im Jahr 1985, noch während der Regierung Alfonsíns, wurde allen Mitgliedern der Militärjunten der Prozess gemacht. Jorge Rafael Videla und Emilio Massera aus der ersten Militärjunta wurden zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, die der zweiten unter General Viola erhielten lange Gefängnisstrafen, während die dritte (Galtieri) und vierte (Bignone) Juntageneration straffrei davonkamen. Im Jahr darauf sah Alfonsín sich jedoch gezwungen, als Zugeständnis an die Militärs das sogenannte Schlußpunkt-Gesetz (Ley de Punto Final) zu erlassen, das eine Einstellung jeglicher Strafverfolgung innerhalb einer Frist von 40 Tagen vorsah und eine Welle von neuen Klagen zur Folge hatte. Daraufhin rebellierten einige Militäroffiziere, und die Regierung sah sich genötigt, trotz aller Demonstrationen und Appelle der Bevölkerung für eine Fortführung der Gerichtsprozesse ein weiteres Gesetz zu verabschieden, das des Befehlsnotstandes (Ley de Obediencia Debida). Es gewährte den unteren Militärrängen Amnestie mit dem Argument, dass sie für die Menschenrechtsverletzungen als lediglich Ausführende von Befehlen nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten. Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem ließ die verurteilten Juntageneräle bei Amtsantritt 1989 begnadigen, so dass in Argentinien eine Situation der vollkommenen Straflosigkeit eintrat. Punto Final – nichts ging mehr.
Null und nichtig: der Fall der Amnestie
Nach der Ablösung Menems durch Fernando de la Rúa (1999) wurde die Forderung nach einer Annullierung der beiden Amnestiegesetze immer lauter. Beflügelt wurde sie nicht nur aufgrund der von Nichtregierungsorganisationen angestrengten Prozesse gegen argentinische Militärs in Europa (Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland), sondern auch aufgrund der sensationellen Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Pinochet in London, die einen wahren Paradigmenwechsel in der internationalen Strafverfolgung von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen herbeiführte. Bereits einen Tag nach Pinochets Verhaftung wurde Emilio Massera der Kindesentführung angeklagt, ein Vergehen, das in den Amnestiegesetzen keine Berücksichtigung gefunden hatte. Auch die illegale Aneignung von Besitztümern als Straftatbestand ermöglichte neuerliche Anklagen.
Der Regierungswechsel 2003 war allentscheidend: Präsident Kirchner erklärte die gesellschaftliche und strafrechtliche Aufarbeitung der Diktaturverbrechen als oberste Priorität und sorgte Schritt für Schritt für die Annullierung der Amnestiegesetze. Im Juni 2005 erklärte sie der neubesetzte Oberste Gerichtshof für verfassungswidrig und deshalb null und nichtig. Verbrechen gegen die Menschheit sind unverjährbar und können nicht von der Strafverfolgung ausgeschlossen werden. Dieser Entscheidung folgte die verstärkte Wiederaufnahme von Fällen bei Gericht.
Das Problem des Zeugenschutzes
Das erste Urteil fiel im August 2006 im Fall des „verschwundenen“ Ehepaares José Poblete und Gertrudis Hlazcik sowie ihrer Tochter. Julio Simón, alias el turco Julián, wurde eine Haftstrafe von 25 Jahren auferlegt. Lebenslänglich verurteilt wurde im Monat darauf der ehemalige Kriminaldirektor der Polizei Buenos Aires, Miguel Etchecolatz, für sechsfachen Mord sowie illegaler Freiheitsberaubung und Folter in zwei Fällen. Dieser Prozess wurde jedoch überschattet vom „Verschwinden“ einer der Schlüsselzeugen, der über 70jährige Jorge Julio López, just am Tag der Gerichtsverhandlung, bei der er aussagen sollte. Sein Schicksal bis heute nicht geklärt. Es ist davon auszugehen, dass sein „Verschwinden“ beabsichtigt war: Die Eliminierung eines Schlüsselzeugen in einem der ersten Gerichtsprozesse auf dieselbe Art und Weise wie zu Diktaturzeiten hatte zum Ziel, die Fortschritte in der Rechtsprechung durch Einschüchterung zu behindern. Mit Erfolg, denn viele Zeugen, oft Überlebende von Folterhaft, sahen in der Folge davon ab, vor Gericht auszusagen. Die Drohungen gegen sie, vor allem im Vorfeld mündlicher Verhandlungen, häufen sich. Neben López sind bisher noch zwei weitere Zeugen verschleppt und ernsthaft misshandelt worden, allerdings lebend wieder aufgetaucht.
Dieses enorm destabilisierende Problem, so Kritiker/innen, ist bisher nicht effektiv von der Regierung angegangen worden. Erst im Mai 2007 rief Präsident Kirchner das Programa Verdad y Justicia (Wahrheit und Gerechtigkeit) ins Leben, in dessen Rahmen Schutzmaßnahmen für Zeugen, Diktaturopfer, Anwält/innen und Beamt/innen des Justizapparates ergriffen werden sollen. Der Leiter des Programms, Marcelo Saín, beklagt allerdings ein unzureichendes Budget und die Tatsache, dass er über kein eigenes Personal verfügt, sondern sich der Flughafenpolizei Ezeiza bedienen muss. In einem Interview mit der Tageszeitung Página12 äußerte er die Meinung, dass Julio López von einer Schlägerbande des Ex-Polizeidirektors Etchecolatz ermordet wurde. Menschenrechtsorganisationen kritisieren außerdem, dass keine Informationen über die Personen vorliegen, die mittels Einschüchterungen und Übergriffen die Strafverfolgung der Diktaturverbrechen verhindern wollen, und ihre Verbindungen zu staatlichen Sicherheitskräften, Geheimdienst sowie privaten Sicherheitsfirmen. Hier sind gründliche Ermittlungen erforderlich, die auch den Fall des ehemaligen Polizeipräfekten Héctor Febres beträfen. Dieser, wegen Folter, Misshandlung und Kindesraub angeklagt, wurde am Tag vor seiner Urteilsverkündung im Dezember 2007 vergiftet. Marcelo Saín ist der Meinung, dass auch die Zeugenaussagen ehemaliger Uniformierter nicht erwünscht sind; der Fall Scilingo soll nicht wiederholt werden. Unterlagen des ehemaligen Geheimdienstes SIDE sind bislang noch nicht freigegeben worden, obwohl sie über mögliche, in neuere Übergriffe involvierte Personen Aufschluss geben könnten.
Mit dem Fall Febres wurde auch die Argumentation über Bord geworfen, dass angeklagte Militärs aus Sicherheitsgründen in den Haftanstalten ihrer eigenen Institutionen untergebracht werden sollten. Die Privilegien, die sie dort genießen, stellen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz ernsthaft in Frage. Im Juli 2007 wurde zwar entschieden, in Untersuchungshaft sitzende Offiziere von Gefängnispersonal des Servicio Penitenciario Federal bewachen zu lassen, aber einer Überführung in gewöhnliche Haftanstalten, wie es NRO einfordern, steht noch einiges im Wege.
Memoria – Gedenken des Grauens
Trotz solch nicht zu unterschätzender Vorkommnisse besteht in der heutigen argentinischen Gesellschaft ein breiter Konsens über die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Diktaturverbrechen. Auch während der Zeit des Punto Final waren die Forderungen nach einer solchen nie verstummt. Dies ist nicht nur der Hartnäckigkeit von Opfer- und Angehörigenverbänden sowie Menschenrechtsorganisationen zu verdanken, sondern sicherlich auch dem Einsatz der CONADEP und den Juntaprozessen – letztere ein in Lateinamerika zu jener Zeit einzigartiger Schritt. Während der Kirchner-Regierung wurden einige sehr symbolische, aber doch entscheidende Maßnahmen für die politisch-gesellschaftliche Aufarbeitung ergriffen, die nicht nur der allgemeinen Akzeptanz, sondern auch der Mitwirkung verschiedenster Akteur/innen Raum geben, so dass die Gestaltung von Gedenkstätten und die Durchführung von Aktivitäten nicht nur für die direkt Betroffenen repräsentativ sind. Dies ist von äußerster Wichtigkeit für die Bewusstseinsbildung der Bevölkerung, so dass das 1984 proklamierte „Nunca Más“ auch in die Tat umgesetzt wird.
In Buenos Aires ist neben der bereits seit 2000 existierenden Gedenkstätte Mansión Seré, der Einweihung des Paseo de Derechos Humanos (2006) durch die Fundación Memoria Histórica y Social Argentina und der Enteignung ehemaliger Folterzentren wie „Automotores Orletti“ vor allem die städtische Übernahme des größten während der Diktatur funktionierenden Folterlagers ESMA (Escuela de Suboficiales de Mecánica de la Armada) im September 2007 hervorzuheben. Von dort „verschwanden“ mindestens 5.000 Personen. Für die Umgestaltung des Areals in ein Museum wurde ein Gremium, Espacio de Memoria, gegründet, in dem auch zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Von ihnen hat jede einen bestimmten Raum zur Ausgestaltung zur Verfügung gestellt bekommen. In der ESMA hat außerdem ein internationales Menschenrechtsbildungsinstitut der UNESCO seinen Sitz.
Auch in den Provinzen sind ehemalige Folterzentren und Anlagen der Sicherheitskräfte zur öffentlichen Nutzung übereignet worden, wie z.B. das Gefängnis La Perla in Córdoba.
Megafälle und Miniurteile
Mit dem von Kirchner promovierten parlamentarischen Nein gegen die Amnestiegesetze wurde bereits im September 2003 entschieden, die beiden sogenannten megacausas, d.h. die in der ESMA sowie die vom Ersten Heereskorps (in Folterzentren wie El Vesubio, Club Atlético, Olimpo, Automotores Orletti oder El Jardín) begangenen Menschenrechtsverletzungen in die Erste Instanz zu geben. 2006 wurden die Vorbereitungen für die Gerichtsverhandlungen getroffen, über 700 Personen waren wegen Verbrechen gegen die Menschheit angeklagt. Während des vergangenen Jahres wurden die obersten Befehlsinhaber des ehemaligen Militärapparates angeklagt und der deutschstämmige Polizeikaplan Cristian von Wernich verurteilt.
Trotz dieser unleugbaren Fortschritte wird von Beobacher/innen und Betroffenen die Abwesenheit einer effizienten Strategie in der Strafverfolgung beklagt. Diese ist unverzichtbar für die enorme Herausforderung, vor der die argentinische Justiz steht: Sie muss die Verantwortlichen von Zehntausenden von grausamsten Verbrechen unter Berücksichtigung der Normen für einen fairen Prozess vor Gericht stellen und verurteilen. Sie muss außerdem die Würde der Zeugen wahren, die öffentlich über schmerzlichste Erlebnisse Zeugnis ablegen. Die Fragmentierung der Prozesse in einzelne Tatbestände bringt jedoch nicht nur einen kaum zu bewältigenden Arbeitsaufwand für die Justizbehörden mit sich, sondern lenkt auch vom systematischen und von höchster Stelle aus koordinierten Vorgehen der Militärs ab, so dass das ungeheure Ausmaß der Gräueltaten nicht mehr erkennbar ist. Die argentinische Gesellschaft kann so den historischen Charakter der Prozesse nur schwer erfassen. Noch weniger gerecht wird diese Vorgehensweise den Überlebenden und Angehörigen der Opfer, da diese in jedem Prozess gegen einen ehemaligen Folterknecht von Neuem aussagen müssen; ihre Würde und ihre Sicherheit werden so kaum gewahrt. Die Vereinheitlichung von Tatbeständen und die Konzentration auf repräsentative Fälle, die eine relativ rasche Verurteilung der obersten Befehlsinhaber in jeder Region des Landes herbeiführen könnte, würde einerseits eine Effizienzsteigerung mit sich bringen und andererseits der argentinischen Bevölkerung die enorme Bedeutung der Prozesse vermitteln.
Die Probleme sind klar identifiziert, so dass eine Unterlassung dringend notwendiger Maßnahmen die Glaubwürdigkeit der Regierung torpedieren würde. So wie auch die Einsetzung von Wahrheitskommissionen sowie die Annullierung von Amnestieregelungen in Lateinamerika Schule gemacht haben, so ist auch eine erfolgreiche Strafverfolgung am Río de la Plata nicht nur für Argentinien von Bedeutung.
Annette Fingscheidt
Koalition gegen Straflosigkeit in Argentinien